Sagt man nun Balkons oder Balkone? Pizzas oder Pizzen? Parke oder Parks? Taxis oder Taxen?
"Die Pluralbildung im Deutschen", doziert die Potsdamer Linguistin Heide Wegener, "ist nicht
chaotisch, aber komplex."
Warum heißt die Mehrzahl von Buch zwar Bücher, von Hund aber keineswegs Hünder?
Ganz einfach: "Auf Grund der lautgesetzlichen Auslautverhärtung führt bei Simplizia,
die auf einen Obstruenten auslauten, die native Pluralbildung zur Sonorisierung des
Konsonanten", erläutert die Professorin.
Als wäre das alles nicht komplex genug, hat der deutsche Volksmund sich daran gemacht,
eine bislang völlig unbekannte weitere Pluralform zu bilden.
Landauf, landab verunzieren Wörter wie "CD's" und "Croque's", "Kamera's" und "Souvenir's",
Autoradio's" und sogar "Gyro's" immer häufiger Anzeigen und Auslagen, Werbezettel und Fassaden
von Bistros und Shops (die konsequenterweise Bistro's und Shop's heißen müssten).
Anfangs schien die Sprachseuche nur im Osten zu grassieren. Vor drei Jahren schlug die
"Berliner Morgenpost" Alarm, es gebe in der Hauptstadt "keine Geschäftsstraße" mehr,
die nicht mit Schöpfungen wie "T-Shirt's" oder "Steak's" dem falschen Apostroph fröne.
Wenig später diagnostizierte die "Süddeutsche Zeitung", die Apostrophitis rase "wie
die Schwarzen Blattern" durch die alten Länder. Mittlerweile scheint Deutschland flächendeckend
infiziert, ohne Ausnahme.
Ob ein Bäcker im badischen
Weinheim "Snack's" offeriert, ein Erlanger Marktbeschicker "Bonbon's" oder ein
Hamburger Kaufmann "Handy's" allerorten schiebt sich das bazillenförmige
Häkchen zwischen Wortstamm und -endung. "Überall schmeißen sie jetzt so einen
Fliegendreck hin", wendet sich die Wiesbadener Gesellschaft für deutsche
Sprache angewidert ab.
Die Pluralverhunzung ist bereits
die zweite Apostrophen-Katastrophe, die Deutschlands Linguisten erschüttert.
Das erste Beben war unmittelbar nach der Wiedervereinigung ausgebrochen, als,
in Überanpassung an die Fast-Food-Sprache des Westens, im Osten jeder
Jungunternehmer seinen neuen Imbiss "Dora's Wurstexpress" oder "Waldemar's
Grillcorner" nannte obwohl der Duden schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts zweifelsfrei verfügte: kein Apostroph vor dem Genitiv-S von
Eigennamen.
Nach der Wende entsetzte sich die
"Zeit" über die "konsequente, ja absolut vollständige Negierung des deutschen
Genitivs" in den fünf neuen Ländern. Das Satire-Blatt "Titanic"
veröffentlichte Frontberichte aus den "fünf Neuen Apostroph-
Missbrauchsgebieten". Doch bald schon zeigte sich, dass der (angel-)sächsische
Genitiv von den Sprachpflegern trotz aller Mühen "nicht zu stoppen" war, wie
1998 die Deutsche Presseagentur meldete.
Die Rechtschreib-Wächter gaben
schließlich klein bei. Zur Kennzeichnung des Genitivs von Namen, heißt es
mittlerweile in der "Amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung",
abgedruckt im neuen Duden, werde "gelegentlich" ein Apostroph gesetzt, "um die
Grundform eines Personennamens" zu verdeutlichen offizielles
Musterbeispiel: "Andrea's Blumenecke".
Nach dem stillen Rückzug der
Sprachpäpste maulte der eine oder andere Feuilletonist noch über "Duden's
neues Regelwerk" ("FAZ"), das "Ossi's Dummdeutsch offiziell abgesegnet" habe
(Zürichs "Tages-Anzeiger"). Mittlerweile scheint der Genitiv-Apostroph
endgültig eingebürgert zum Verdruss von Sprachkritikern, die sich nicht
damit abfinden mögen, dass die "Flut der Amerikanismen" im Deutschen
"angeschwollen ist wie noch nie", so der Publizist und "Kursbuch"-Herausgeber
Karl Markus Michel, und dass "pseudoweltläufiges Neusprech sich überall
durchsetzt", so der Dortmunder Professor Walter Krämer, Vorsitzender des
Vereins Deutsche Sprache und Autor einer einschlägigen
Streitschrift.
Dabei handelt es sich bei dem
zugewanderten Gastronomie-Genitiv nach Art von McDonald's immerhin noch um
einen echten Anglizismus im Gegensatz zum Apostroph-s-Plural: Der ist
weder in England noch in den USA erlaubt, sondern schlicht dämlich. Dennoch
fürchten Pessimisten, dass auch der Deppen-Plural bald schon dudenreif sein
könnte wenn er nur, im Gefolge des legalisierten Genitiv-Häkchens,
massenhaft Verbreitung findet. Damit aber muss gerechnet werden. Am
leichtesten lässt sich der Vormarsch des falschen Plurals derzeit im Internet
verfolgen. Die Suchmaschine AltaVista.de beispielsweise meldete, dass allein
die Fehlbildungen "Info's" und "Link's" mittlerweile auf rund 40 000
beziehungsweise 10 000 deutschsprachigen Homepages vertreten
sind.
Im Web allerdings formiert sich
seit einiger Zeit Widerstand gegen die Invasion der Apostrophe. Ein
sprachkundiger Eleve des Emil-von-Behring- Gymnasiums im bayerischen Spardorf,
den "geradezu körperlicher Schmerz" bei der Lektüre von Wörtern wie "Tee's"
und "CD's" befällt, rief in der Online-Schülerzeitung "diebombe.de" zum
"Apostrophozid" per Edding-Stift auf: "Alle nichtexistenzberechtigten
Apostrophe müssen aus dem öffentlichen Leben
verschwinden!"
Ein Web-Dienstleistungsunternehmen
namens www.korrekturen.de hat es zwar aufgegeben, den schier allgegenwärtigen
Genitiv-Apostroph- Missbrauch anzuprangern: "Wollten wir hier alle Beispiele
zitieren", schreiben die Korrektoren, "wäre der Speicherplatz unseres Servers
schnell erschöpft." Umso mehr aber wollen sich die Sprachpfleger auf die "neue
Tendenz" konzentrieren, "jetzt auch in Pluralformen einen markanten Apostroph
zu setzen".
Front gegen diesen Trend macht
seit einiger Zeit der Hamburger Computerexperte und Sprachpurist Philipp
Oelwein ("mit oe wie Goethe"): In seiner "Apostroph-Gruselgalerie" im Internet
(
www.oelwein.de/philipp/linguistik/grusel.htlm)
hat der 31-jährige Diplomphysiker besonders gräusliche Beispiele
gesammelt etwa aus der Computerbranche ("New's of
Electronic").
Sein Göttinger Mitstreiter Daniel
Fuchs (http://members.aol.com/apostrophs)
betreibt eine ähnliche Website mit Fundsachen wie "Pulli's, Short's, Top's".
Dem Sohn einer Sprachwissenschaftlerin war zumindest ein schöner Erfolg
beschieden: Nachdem er den Knabberzeug-Hersteller Chio wegen eines Mais-Snacks
namens "Tortilla's" an den virtuellen Pranger gestellt hatte, taufte die Firma
das Produkt in "Tortillas" um.
Dennoch sieht der 34-Jährige
keinen Grund zum Optimismus, "denn es grassiert wie verrückt, es breitet sich
aus". Neuester Trend: Nachdem der falsche Apostroph den Genitiv bereits
gemeuchelt und den Plural verstümmelt hat, befällt er jetzt alle übrigen
Wörter, die auf s enden.
In Göttingen entdeckte Fuchs die
Mitteilung "Sonntag's Brötchen", in Berlin-Marzahn fotografierte ein Freund
ein Schild "Freitag's Singelparty". In Nürnberg führt ein Laden "Spielzeug von
Damal's". Einen weiteren schweren Fall von Apostroph-Abusus meldete ein
Verbündeter von der deutschen Nordseeküste: Dort gibt's neuerdings "Matje's
und Seelach's".
Das Nonplusultra aber entdeckten Mitstreiter in der Bettenabteilung eines Kasseler Kaufhauses:
"Matratze'n."